Wunderbar! Günther ist noch ein Wanderer zwischen den Welten. Die Eierschalen des kommenden Zeitalters trägt er hinter dem Ohr, doch steht er mit einem Bein auch noch in den barocken Traditionen. Und Endlich kommt natürlich von Ende und deutet auf die erwähnte Bahre als Wiege des Himmels. Auf Erden bleiben dann nur "abgebrannte Kerzen", wie es Gryphius einst so unnachahmlich beschrieben hatte.
Neben Günther ist Barthold Heinrich Brockes ein anderer Sänger des Übergangs. Als Hamburger Ratsherr konnte man auch ein Leben (1680-1747) neben dem Dichten leben, das einen nicht allzufrüh schon heimrief. Das neue Motiv: die Natur, das alte: der hinter ihr stehende Allmächtige, der das Große, aber eben auch das Kleine gestaltet hat:
Die kleine Fliege
Neulich sah ich, mit Ergötzen, Eine kleine Fliege sich, Auf ein Erlen-Blättchen setzen, Deren Form verwunderlich Von den Fingern der Natur, So an Farb′ , als an Figur, Und an bunten Glanz gebildet. Es war ihr klein Köpfchen grün, Und ihr Körperchen vergüldet, Ihrer klaren Flügel Paar, Wenn die Sonne sie beschien, Färbt ein Rot fast wie Rubin, Das, indem es wandelbar, Auch zuweilen bläulich war. Liebster Gott! wie kann doch hier Sich so mancher Farben Zier Auf so kleinem Platz vereinen, Und mit solchem Glanz vermählen, Daß sie wie Metallen scheinen! Rief ich, mit vergnügter Seelen.
Wie so künstlich! fiel mir ein, Müssen hier die kleinen Teile In einander eingeschränkt, durch einander hergelenkt Wunderbar verbunden sein! Zu dem Endzweck, daß der Schein Unsrer Sonnen und ihr Licht, Das so wunderbarlich-schön, Und von uns sonst nicht zu sehn, Unserm forschenden Gesicht Sichtbar werd, und unser Sinn, Von derselben Pracht gerühret, Durch den Glanz zuletzt dahin Aufgezogen und geführet, Woraus selbst der Sonnen Pracht Erst entsprungen, der die Welt, Wie erschaffen, so erhält, Und so herrlich zubereitet. Hast du also, kleine Fliege, Da ich mir an die vergnüge, selbst zur Gottheit mich geleitet.
Aixbock
„Da wir nichts tun können als schreiben, so müssen wir tun, was wir können.“ - Christoph Martin Wieland
"Die Frage ist nicht, was wir dürfen. Die Frage ist, was wir mit uns machen lassen“ - Nena, 25.7.2021
Zitat von Aixbock im Beitrag #151Wunderbar! Günther ist noch ein Wanderer zwischen den Welten. Die Eierschalen des kommenden Zeitalters trägt er hinter dem Ohr, doch steht er mit einem Bein auch noch in den barocken Traditionen. Und Endlich kommt natürlich von Ende und deutet auf die erwähnte Bahre als Wiege des Himmels. Auf Erden bleiben dann nur "abgebrannte Kerzen", wie es Gryphius einst so unnachahmlich beschrieben hatte.
Neben Günther ist Barthold Heinrich Brockes ein anderer Sänger des Übergangs. Als Hamburger Ratsherr konnte man auch ein Leben (1680-1747) neben dem Dichten leben, das einen nicht allzufrüh schon heimrief. Das neue Motiv: die Natur, das alte: der hinter ihr stehende Allmächtige, der das Große, aber eben auch das Kleine gestaltet hat:
Die kleine Fliege
Neulich sah ich, mit Ergötzen, Eine kleine Fliege sich, Auf ein Erlen-Blättchen setzen, Deren Form verwunderlich Von den Fingern der Natur, So an Farb′ , als an Figur, Und an bunten Glanz gebildet. Es war ihr klein Köpfchen grün, Und ihr Körperchen vergüldet, Ihrer klaren Flügel Paar, Wenn die Sonne sie beschien, Färbt ein Rot fast wie Rubin, Das, indem es wandelbar, Auch zuweilen bläulich war. Liebster Gott! wie kann doch hier Sich so mancher Farben Zier Auf so kleinem Platz vereinen, Und mit solchem Glanz vermählen, Daß sie wie Metallen scheinen! Rief ich, mit vergnügter Seelen.
Wie so künstlich! fiel mir ein, Müssen hier die kleinen Teile In einander eingeschränkt, durch einander hergelenkt Wunderbar verbunden sein! Zu dem Endzweck, daß der Schein Unsrer Sonnen und ihr Licht, Das so wunderbarlich-schön, Und von uns sonst nicht zu sehn, Unserm forschenden Gesicht Sichtbar werd, und unser Sinn, Von derselben Pracht gerühret, Durch den Glanz zuletzt dahin Aufgezogen und geführet, Woraus selbst der Sonnen Pracht Erst entsprungen, der die Welt, Wie erschaffen, so erhält, Und so herrlich zubereitet. Hast du also, kleine Fliege, Da ich mir an die vergnüge, selbst zur Gottheit mich geleitet.
Aixbock
Ja, das trifft es wohl sehr genau. Das gehört ja auch zum Faszinierenden an Günther, dass er mit seinem Werk zwischen zwei großen Epochen steht.
Brockes kenne ich zwar vom Namen her, habe mich aber noch nicht mit ihm beschäftigt und hatte bis gerade noch keinen Brocken von ihm gelesen. Aber die kleine Fliege veranschaulicht ja sehr schön, was du meinst.
Ein Ziel, wird immer wieder von mir verlangt, ein Ziel sollte ich haben. Mein Gott, muss ich da fragen, wo soll denn das hinführen? Christof Stählin
Eigentlich müsste es ja Thomas Mann sein. Der wird morgen immerhin 150. Aber bei akutem Zeitmangel sind dicke Wälzer eher weniger geeignet, kleine Gedichte gehen dagegen immer. Werde wohl wieder mal in die Werke Johann Christian Günthers hineinschauen...
Ein Ziel, wird immer wieder von mir verlangt, ein Ziel sollte ich haben. Mein Gott, muss ich da fragen, wo soll denn das hinführen? Christof Stählin
Ich empfehle, zwei Fliegen (kleine Fliegen, vgl. Brockes) mit einer Klappe zu schlagen: Thomas Mann hat auch etwas kürzere Erzählungen geschrieben, z.B. "Die Betrogene", die zwar in Düsseldorf spielt ( ), in der aber eine Frau mit dem Namen Louise Pfingsten vorkommt. Ich gebe zu: die Hauptperson ist es nicht, das ist die Frau von Tümmler. Aber es gibt nun mal kein Fest namens Tümmler.
Aixbock
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Vielen Dank für den Tipp! Mein Problem: Von Thomas Mann fehlen mir eigentlich nur die Josephs-Romane. Die wären deshalb dringend mal dran. Leider gibt mein "Zeit-Budget" (schreckliches Wort) das gerade einfach nicht her. Aber irgendwann klappt das. Und um so schöner ist bis dahin die Vorfreude... 😁
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Zitat von Hermes im Beitrag #154Eigentlich müsste es ja Thomas Mann sein. Der wird morgen immerhin 150. Aber bei akutem Zeitmangel sind dicke Wälzer eher weniger geeignet, kleine Gedichte gehen dagegen immer. Werde wohl wieder mal in die Werke Johann Christian Günthers hineinschauen...
Herzlichen Glückwunsch Thomas Mann!
Ich werde gleich noch etwas über dicke Wälzer anfügen, jetzt aber erst mal ein Geburtstagsschluck.
Aixbock
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Also nun die dicken Wälzer! Zunächst natürlich die Joseph-Romane. Dicke Bücher dieser Art schrecken erst einmal ab, u.a. weil die Gefahr besteht, darin stecken zu bleiben. Vielleicht hat man sie lange im Regal stehen, bedeckt mit dem Staub des schlechten Gewissens, dann nimmt man sie vor und kommt irgendwann nicht mehr weiter. Ich gesteh's, so ist es mir mit der Joseph-Tetralogie ergangen: Erst kaufte ich nur den Jaakob-Band mit der wundervollen Einleitung ("Tief ist der Brunnen der Vergangenheit....."), die lesend mir stets das Es-Dur des Rheingold-Vorspiels im Hinterkopf dröhnt. Aber nach Beendigung des ganzen Buchs machte ich erst einmal eine Riesenpause von vielleicht 15 Jahren; dann besorgte ich mir eine Gesamtausgabe der Romane in einem Band und las etwa bis zum ersten Drittel von "Joseph in Ägypten". Inzwischen sind wohl weitere 15 Jahre vergangen, und ich fragte mich, ob ich noch Anschluß finden kann oder ob vielleicht solche Monumentalwerke nicht das Richtige für mich sind....
Aber mit 12/13 hatte ich doch auch die Winnetou-Trilogie gelesen! Das sind immerhin über 1500 Seiten in der Bamberger Ausgabe. Später, vielleicht mit 15/16 las ich "Jenseits von Eden", den dicksten Steinbeck-Roman. Aber ich erinnere mich, daß der Steinbeck-Phase die Hesse-Phase folgte und ich nach Steppenwolf, Narziß, Demian etc.pp. doch einen Heidenrespekt vor dem Glasperlenspiel empfand. Damals galt das als dicker Wälzer; gerade sehe ich indes, daß es kaum über 600 Seiten hat. Angeregt durch meinen Philosophielehrer, der mir seine Examensarbeit über dieses Hesse-Opus zu lesen gab, habe ich mich unmittelbar nach dem Abitur dann doch darangewagt. Nun brachen alle Dämme! Glaperlenspiel studiert, dann kann man auch alles andere Lesen: Her mit dem Ulysses!
Aber es gab wieder einen Dämpfer. James Joyce galt als schwer und unzugänglich. Klar, aber doch nicht für Glasperlenspielabsolventen! "Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt,....." 1015 Seiten! Na und? ich besorgte das Werk in einer Buchhandlung in Kleve, wie ich mich noch erinnere, und schaffte es bis auf Seite 35. Dann hatte ich erst einmal genug von dicken Wälzern; bis hin zu dem bislang gescheiterten Versuch mit Joseph und seinen Brüdern.
Proust, die absolute Superlative der dicken Wälzer, hätte ich niemals auch nur ernsthaft in Erwägung gezogen, obwohl ich vor Jahrzehnten in Köln (Dürener Str., Ecke Gürtel) ganz zufällig einen netten Proust-Fan eher zufällig kennenlernte, der mit warmen Worten von diesem Autor und seinem 10-Bände-Werk sprach - zufällig, weil er Urologe und ich bei ihm für kurze Zeit in Behandlung war. Später erst erfuhr ich, daß er nicht nur Mediziner, sondern nebenher auch Präsident der deutschen Proust-Gesellschaft war. (Dazu fand ich gerade:
Schade, hätte ich's gewußt, wäre ich vielleicht hingefahren.)
Aber ich schweife ab. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu dick, "Ulysses" zu dick, "Joseph und seine Brüder" zu dick, das war's dann wohl, vielleicht waren 800 Seiten mein Limit.
Aber Winnetou? Der Orientzyklus? Irgendwie mußte es doch gehen. Johann Gottfried Schnabel war dann mein Retter. Die "Insel Felsenburg" las ich vor einigen Jahren in der Originalfassung (nicht in der von Tieck gekürzten); das sind in meiner Ausgabe immerhin 2373 Seiten. Schon der Originaltitel reicht über eine Seite:
"Wunderliche Fata einiger Seefahrer, absonderlich Alberti Julii, eines geborenen Sachsens, welcher in seinem 18. Jahre zu Schiffe gegangen, durch Schiff-Bruch selb4te an eine grausame Klippe geworfen worden, nach deren Übersteigung das schönste Land entdeckt, sich daselbst mit seiner Gefährtin verheyratet, aus solcher Ehe eine Familie von mehr als 300 Seelen erzeuget, das Land vortrefflich angebauet, durch besondere Zufälle erstaunens-würdige Schätze gesammelet, sein in Teutschland ausgekundschafften Freunde glücklich gemacht, am Ende des 1728sten Jahres, als in seinem hunderten Jahre annoch frisch und gesund gelebt und vermutlich noch zu dato lebt"
Dieser Barocke Titel zeigt übrigens: Auch Schnabel (1692 - 1744-48, man weiß es nicht genau) ist wie Günther und Brockes zu den Übergangsautoren zu stellen. Mir machte er den Übergang zu den dicken Wälzern, vielleich bald auch noch mal zu "Joseph und seinen Brüdern", das heutige Geburtstagskind hätte es jedenfalls verdient. Zuerst aber zu dem fabelhaften
"Mann ohne Eigenschaften",
eines der großartigsten Romane aus dieser Zeit, die ich je gelesen habe. Leider ist das ein Torso: das veröffentlichte Fragment hat indes allein etwa 1040 Seiten, doch Musil hat immer wieder weiter daran geschrieben, jahrelang bis zu seinem Tode. Alle weiterführenden Druckfahnen, Vorentwürfe, Reinschriften, Skizzen hat A. Frisé später aus dem Nachlaß herausgegeben. Daran lese ich noch. Der Roman erfüllt alle Kriterien, die Karl Büchner einst für große Kunst genannt hat: sie sei ein "Spiel von Sprache, Geist und Form". Musil pflegt eine geradezu poetische Prosa, die einen immer wieder Absätze zweimal, dreimal, viermal lesen und genießen läßt. Umso länger benötigt man für diese riesigen Textmassen, die eigentlich nur eine kleine Sache behandeln: die Vorbereitungen zu einer sog. Parallelaktion, die dazu dienen soll, den österreichischen Kaiser den preußisch-deutschen im Jubiläumstriumpf übertreffen zu lassen. Die Handlung spielt 1913/14, und jeder Leser weiß, daß den Planern der Erste Weltkrieg in die Quere kommen wird, aber der Roman kommt bis dahin nicht. Stattdessen dient diese Rahmenhandlung dazu, endlos vielen Debatten der Protagonisten über Gott und die Welt, Seele und Geist, Moral und Religion einen Zusammenhang zu geben.
Als Teenager wäre ich daran verzweifelt. Vor 20 Jahren hätte ich den dicken Wälzer sicher irgendwann erschöpft aus der Hand gelegt. Aber man wird älter, klüger, reifer und am Ende auch selber dicker. Das paßt dann auch besser zum Buch. Zu Pfingsten also ist hier Musil die Empfehlung, bevor ich dann vielleicht noch ein kleines Gedicht übermitteln werde.
Aixbock
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Vielen Dank für diesen wunderschönen und launigen Text über die Wälzer. Da erkennt man sich doch in einigem wieder ;) In den Josephs-Romanen habe ich's anscheinend ähnlich weit geschafft wie du. Aber ich habe das Gefühl: Thomas Manns Geburtstag und dass er deshalb nun ständig Thema ist, werden dazu beitragen, dass ich es wieder aufnehmen werde, sobald sich ein Zeitfenster dazu öffnet (vielleicht "zwischen den Jahren"?).
🪟📖🪟
Ein Ziel, wird immer wieder von mir verlangt, ein Ziel sollte ich haben. Mein Gott, muss ich da fragen, wo soll denn das hinführen? Christof Stählin
Dazu gehört neben der Apostelgeschichte natürlich der berühmte Hymnus des (wahrscheinlich) Hrabanus Maurus, dem Abt des Klosters Fulda aus dem 9. Jahrhundert, der Zeit der sog. "Karolingischen Renaissance".
Veni creator spiritus mentes tuorum visita imple superna gratia quae tu creasti pectora.
S 2 Qui diceris Paraclitus, Altissimi donum Dei. Fons vivus, ignis, caritas Et spiritalis unctio.
S 3 Tu septiformis munere, Digitus paternae dexterae. Tu rite promissum Patris, Sermone ditans guttura.
S 4 Accende lumen sensibus Infunde amorem cordibus, Infirma nostri corporis Virtute firmans perpeti.
S 5 Hostem repellas longius Pacemque dones protinus; Ductore sic te praevio Vitemus omne noxium.
S 6 Per te sciamus da Patrem, Noscamus atque Filium; Teque utriusque Spiritum Credamus omni tempore.
S 7 Deo Patri sit gloria, Et Filio, qui a mortuis Surrexit, ac Paraclito In saeculorum saecula. Amen
In der Übersetzung des Barockdichters Angelus Silesius lautet es:
Komm, heilger Geist, du Schöpfer du, Sprich deinen armen Seelen zu. Erfüll mit Gnaden, süßer Gast, Die Brust, die du geschaffen hast.
Der du der Tröster bist genannt, Des allerhöchsten Gottes Pfand, Des Lebens Brunn, der Liebe Brunst, Die Salbung, wesentliche Gunst.
Du siebenfaches Gnadengut, Du Finger Gotts, der Wunder tut, Du gibst der Erde, daß sie fließt So mild, als du verheißen bist.
Zünd unsern Sinnen an dein Licht, Die Herzen füll mit Liebespflicht. Stärk unser schwaches Fleisch und Blut Durch deiner Gottheit starken Mut.
Den Feind von uns treib fern hinweg Und bring uns zu des Friedens Zweck, Daß wir, durch deine Huld geführt, Vermeiden, was uns nicht gebührt.
Mach uns durch dich den Vater kund, Wie auch den Sohn, für uns verwundt. Dich, aller beider Geist und Freud, Laß uns verehrn zu jeder Zeit.
Ehr sei dem Vater, unserm Herrn, Und seinem Sohn, dem Lebensstern. Dem heilgen Geist in gleicher Weis' Sei jetzt und ewig Lob und Preis.
Es ist das Pfingstgedicht schlechthin und muß daher heute den Weg in diesen Faden finden. Dazu gehört natürlich die musikalische Umsetzung in Gustav Mahlers VIII. Symphonie, der wohl gewaltigsten symphonischen Kantate, die die Welt kennt. Der erste Satz beginnt mit der Vertonung dieses Gedichts, der letzte endet mit den Schlußversen aus Goethes Faust II.
Bei Musil habe ich mich gar nicht erst an den Wälzer gewagt und nur den früheren (1906) und vor allem sehr viel kürzeren Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" gelesen. Wem das trotz (relativer) Kürze immer noch zuviel ist, der kann auch Volker Schlöndorffs Verfilmung "Der junge Törless" anschauen, das dauert nur 87 Minuten. Immerhin wird der Film von Kritikern als "kongenial" gefeiert und räumte zahlreiche Filmpreise ab. Wer es noch kürzer will: Im Musikvideo "The solo room" der Pet Shop Boys (2023) sind auch Ausschnitte des Films verarbeitet. Vom Inhalt bleibt da natürlich nicht viel übrig. Nichts kann eben ein Buch ersetzen.
Schlöndorff hat übrigens auch, allerdings nur einen kleinen Teil von Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (Eine Liebe von Swann) verfilmt, der die Kritiker allerdings längst nicht so überzeugt hat wie der Musil-Film. „Hat spröden Charme, aber gute Bilder.“, meint zum Beispiel die Cinema. Und da ich jetzt schon von den Büchern bei den Filmen gelandet bin: "Literatur-Verfilmungen" sind ja schon vom Wort her etwas zwiespältig und schwierig. Laufen, rennen, passen, tauschen, gehen und kommen sind ja alles neutrale bis positive Verben, aber sobald denen das Präfix "ver" vorangestellt wird, schlägt es schnell ins Negative um: verlaufen, verrennen, verpassen vertauschen, verkommen, vergehen... Guten "Verfilmungen" gelingt es, inspiriert vom Buch etwas ganz Eigenes in der Sprache des Films zu schaffen. Oft aber gelingt dies auch nicht, dann werden aus Verfilmungen schnell Verfehlungen, und man möchte schreien: Da hat sich aber mal einer ganz gewaltig verfilmt.
Thomas Manns Werke haben schon viele verführt zu filmen oder zu verfilmen. Allein die Buddenbrooks sind schon viermal verfilmt worden (1923, 1959, 1979, 2008), der Felix Krull dreimal (1957, 1982, 2021). Auch viele andere Romane und Erzählungen Manns sind Film geworden. An den größten "Wälzer", die Josephs-Romane, hat sich aber bisher noch keiner herangewagt. Mal schauen, welches Genie sich das in Zukunft noch nachzuholen traut. 🔮
Ein Ziel, wird immer wieder von mir verlangt, ein Ziel sollte ich haben. Mein Gott, muss ich da fragen, wo soll denn das hinführen? Christof Stählin
Pfingsten ist noch nicht vorbei und deshalb noch Zeit für eine kleine Thomas-Mann- Empfehlung. Und es sollte natürlich eine sein, die man an einem Tag schaffen kann. Zum Glück gibt es neben seinen großen Romanen auch große (aber nicht so lange) Erzählungen.
Da ich gerade in München bin, läge es nahe, "Gladius Dei" (1902) zu empfehlen. Das ist jene Erzählung mit dem schönen Kernsatz, den die Stadt München heute nicht müde wird, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu nutzen: "München leuchtete." In diesen fanatisierten Zeiten sogar recht aktuell.
Da wir aber gerade von Joseph und seinen Brüdern kommen, möchte ich eine andere biblische Erzählung empfehlen: "Das Gesetz" (1944), Thomas Manns Version der Moses-Geschichte. Genauso faszinierend, aber doch erheblich viel kürzer. Da kann man nahezu jeden Satz genießen.
Ein Ziel, wird immer wieder von mir verlangt, ein Ziel sollte ich haben. Mein Gott, muss ich da fragen, wo soll denn das hinführen? Christof Stählin
Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen, es grünten und blühten Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel; Jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen, Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.
Endlich, endlich Hexameterverse! Gesucht und gefunden, dafür muß man ja heute nicht mehr in Bibliotheken.
Wie konnte ich es übersehen! "Reinecke Fuchs", das Epos in Goethes Version fängt ja sogar mit der Beschwörung des Pfingstfestes an: Erster Gesang, 1.-5. Vers.
Der Hexametervers (Sechsheber) ist der Erzählvers der alten Griechen, das Maß der Homerischen Epen. Die Römer (Vergil & Co.) haben ihn nachgemacht. Ins Deutsche gelangte er im 18. Jahrhundert vor allem durch Klopstock und Voß. Goethe verwendete ihn als Epenvers außer für "Hermann und Dorothea" auch für den Reinecke Fuchs (und für die unvollendete Archilleis). Vielleicht ist es auch der geeignete Vers, den Heiligen Geist und damit Pfingsten zu besingen.
Aixbock
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"Die Frage ist nicht, was wir dürfen. Die Frage ist, was wir mit uns machen lassen“ - Nena, 25.7.2021
Ich hätte gar nicht gedacht, dass es buchstäbliche Pfingstgedichte gibt. Spontan wäre mir jedenfalls keines eingefallen. Ostern, klar. Mai auch. Aber Pfingsten? Dann habe ich doch so einige gefunden.
Ich schließe mich mal gleich mit einem weiteren Text von Goethe an:
Dreifaltigkeit (von Johann Wolfgang von Goethe)
Der Vater ewig in Ruhe verbleibt, Er hat der Welt sich einverleibt. Der Sohn hat Großes unternommen, Die Welt zu erlösen ist er gekommen; Hat gut gelehrt und viel ertragen, Wunder noch heut in unsern Tagen.
Nun aber kommt der heilige Geist, Er wirkt am Pfingsten allermeist. Woher er kommt, wohin er weht, Das hat noch niemand ausgespäht. Sie geben ihm nur eine kurze Frist, Da er doch Erst- und Letzter ist.
Ein Ziel, wird immer wieder von mir verlangt, ein Ziel sollte ich haben. Mein Gott, muss ich da fragen, wo soll denn das hinführen? Christof Stählin
Ein Pfingstgedichtchen will heraus Ins Freie, ins Kühne. So treibt es mich aus meinem Haus Ins Neue, ins Grüne. Wenn sich der Himmel grau bezieht, Mich stört’s nicht im geringsten, Wer meine weiße Hose sieht, Der merkt doch: Es ist Pfingsten.
Nun hab ich ein Gedicht gedrückt, Wie Hühner Eier legen, Und gehe festlich und geschmückt – Pfingstochse meinetwegen – Dem Honorar entgegen.
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Gottfried Keller hat Pfingsten in Berlin erlebt und darüber gedichtet:
Berliner Pfingsten (Gottfried Keller)
Heute sah ich ein Gesicht, Wonnevoll zu deuten: In dem frühen Pfingstenlicht Und beim Glockenläuten Schritten Weiber drei einher, Feierlich im Gange, Wäscherinnen fest und schwer, Jede trug 'ne Stange.
Mädchensommerkleider drei Flaggten von den Stangen; Schön're Fahnen, stolz und frei, Als je Krieger schwangen, Blau und weiß und roth gestreift, Wunderbar beflügelt, Frisch gewaschen und gesteift, Tadellos gebügelt.
Lustig blies der Wind, der Schuft, Lenden auf und Büste, Und von frischer Morgenluft Blähten sich auf die Brüste! Und ich sang, als ich geseh'n Ferne sie entschweben: Auf und laßt die Fahnen weh'n, Schön ist doch das Leben!
Aber auch Missstimmungen wurden bedichtet:
Frühling 1853. (Gottfried Keller)
Welch' schauriger Lenz, der Sonne beraubt, Um Pfingsten die Bäume noch nicht belaubt! Der Eisbär sperrte den Rachen auf, Propheten hemmten der Erde Lauf; Die Hochgebildeten und Geweihten Knieten vor Tischen, die prophezeiten! Es war eine stechende Maienlust, Das Säulein schrie in der Menschenbrust.
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Sind solche Tage nicht so, wie sie sollen, Können Poeten auch kräftig mal schmollen so wie Ludwig Thoma in diesem Gedicht - man liest es, und man glaubt es nicht: 🥶
Erster Mai (Ludwig Thoma)
Ja, das war ein erster Mai! Dreckig waren alle Straßen, Auch der Wind hat kalt geblasen, So, als wenn es Winter sei.
Unsre junge Mädchenschar Trug verstärkte Unterhosen, Und es konnte wohl erbosen, Wem es etwa lästig war.
Nichts von Spitzen oder Mull! Und von den Naturgenüssen Hat man sich enthalten müssen, Denn es war fast unter Null.
Alle haben sich geschont, Die sonst gerne unterliegen, Um nicht den Katarrh zu kriegen. Und das heißt man Wonnemond!
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Als ich neulich nach Jahrzehnten das Glasperlenspiel nochmals zur Hand nahm, um nachzusehen, ob es als "dicker Wälzer" in Betracht kommt, stieß ich auf dieses wunderbare Gedicht Hesses, im Werk dem Magister Ludi zugeschrieben. Es paßt wohl auch sehr gut zu Pfingsten:
Nach dem Lesen der Summa contra Gentiles
Einst war, so scheint es uns, das Leben wahrer, Die Welt geordneter, die Geister klarer, Weisheit und Wissenschaft noch nicht gespalten. Sie lebten voller, heitrer, jene Alten, Von denen wir bei Plato, den Chinesen Und überall so Wunderbares lesen – Ach, und sooft wir in des Aquinaten Wohl abgemeßnen Summentempel traten, So schien uns eine Welt der reifen, süßen, Der lautern Wahrheit ferneher zu grüßen: Alles schien dort so licht, Natur von Geist durchwaltet, Von Gott her zu Gott hin der Mensch gestaltet, Gesetz und Ordnung formelschön verkündet, Zum Ganzen alles ohne Bruch geründet. Statt dessen scheint uns Späteren, wir seien Zum Kampf verdammt, zum Zug durch Wüsteneien, Zu Zweifeln nur und bittern Ironien, Nichts sei als Drang und Sehnsucht uns verliehen. Doch mag es unsern Enkeln einmal gehen Wie uns: sie werden uns verklärend sehen, Als Selige und Weise, denn sie hören Von unsres Lebens klagend wirren Chören Nur noch harmonischen Nachklang, der verglühten Nöte und Kämpfe schon erzahlte Mythen. Und wer von uns am wenigsten sich traut, Am meisten fragt und zweifelt, wird vielleicht Es sein, des Wirkung in die Zeiten reicht, An dessen Vorbild Jugend sich erbaut; Und der am Zweifel an sich selber leidet, Wird einst vielleicht als Seliger beneidet, Dem keine Not und keine Furcht bewußt war, In dessen Zeit zu leben eine Lust war Und dessen Glück dem Glück der Kinder glich.
Denn auch in uns lebt Geist vom ewigen Geist, Der aller Zeiten Geister Bruder heißt: Er überlebt das Heut, nicht Du und Ich.
Aixbock
Die Summa contra gentiles ist eines der Hauptwerke des Thomas von Aquin (im Text der Aquinate)
„Da wir nichts tun können als schreiben, so müssen wir tun, was wir können.“ - Christoph Martin Wieland
"Die Frage ist nicht, was wir dürfen. Die Frage ist, was wir mit uns machen lassen“ - Nena, 25.7.2021
Diesen Text habe ich so bei Pinterest gelesen, mit der Unterschrift.
Habe gerade gelesen das es nicht von Heinz Erhard ist. Ich entschuldige mich für diesen Fehler. Also etwas mehr recherchieren. Ich fand es trotzdem gut.